Bye bye! Ein wenig wehmütig verlassen wir Estland, und finden ein Schloss im nirgendwo, kurz bevor wir Tarzan spielen.

Es geht weg vom Peipsi See, Richtung Lettland durchs Landesinnere. Es ist mal wieder Lunch Zeit, und wir haben Hunger. In Vöru empfiehlt uns Google ein Restaurant, das von außen nicht erkennbar ist: das Kohvik Pannukas ist eine Wohnung in einem grauen und hässlichen Plattenbau. Zögerlich betreten wir das von Google Benutzern als ‚exzellent‘ bewertete Restaurant. Und siehe da. Welch Überraschung. Das ‚Wohnzimmer‘ ist ein wenig 50er Jahre stilvoll eingerichtet, mit Frank Sinatra Bild und Retro-Radio aus Holz. Auf der Karte gibt es sogar ‚Snitsel‘ – unser Leibgericht. Auch das Schnitzel für 10 Euro besteht den Test: saftig und schmackhaft! Pappsatt geht’s weiter, unser geplanter Stopp liegt bei Vöru, genauer gesagt in Viitina. Und hier treffen wir dann auf Christoph, unseren Stellplatz Gastgeber für die nächsten zwei Tage.

Die Belebung von Süd-Estland

Wie lockt man Touristen ins dünn besiedelte Landesinnere?

Diese Frage stellt sich die Gemeinderätin in Viitina – Vörnu. Gemeinsam mit ortsansässigen Bürgern und Unternehmern wie Christoph sind Ideen entwickelt, die Gegend zu beleben und für Reisende attraktiv zu gestalten. Augenscheinliche Zielgruppen sind Angler, Ornithologen und Wanderer. Der “Baltische Waldwanderweg” führt bereits durch Estland, und soll zukünftig die Region Vöru miteinbeziehen. Weitere Ideen sind geführte Motorrad Touren, und – ganz klar – Wohnmobilisten und Camper. Denn: Übernachtungsmöglichkeiten sind eher rar gesägt, in Süd-Ost Estland. Es gibt einige wenige Wellness Hotels, ob diese jedoch dem Anspruch verwöhnter Reisender entsprechen? Geplant ist auch ein 9 Loch Golfplatz, pitch & play.

Mir gefallen all diese Ideen, die uns Christoph abends beim Essen am Grill erzählt. Er hat sein Haus am See erst Ende letzten Jahres ersteigert, und bezogen. Das ehemalige Gemeindehaus stand lange leer, bis sich Christoph und Frau Tatiana des Gemäuers annahmen. Viel Arbeit. Sehr viel Arbeit ist das. Einiges mehr als erwarte, da unter anderem die Rohre und Leitungen verlegt wurden, ohne auf Schräglagen zu achten. Ein Abfluss, der nach oben abfließen soll, funktioniert nur schwierig. Nichtsdestotrotz hat sich Christoph seine Motorrad-Werkstatt mit Büro auf 100qm bereits eingerichtet, und bietet Touren in der Gegend an.

Einsame Seen

Die Gegend ist wunderschön, nicht nur zum Motorrad fahren. Die zahlreichen Seen erinnern mich an das polnische Masuren, nur mit wesentlich weniger Touristen und Einwohnern. Jeden Morgen gehe ich im See schwimmen, die Wassertemperatur ist mit 20 Grad sehr angenehm. Nachdem wir im Juli auf unserer Tour viel Regen hatten, scheint uns der Wettergott nun wohlgesonnen- herrlicher Sonnenschein und 25 Grad lassen die Landschaft erstrahlen. Nachts kühlt es ab auf circa 16 Grad, was zum schlafen sehr angenehm ist.

Der gläserne Staat

Christoph erzählt über Estland, den gläsernen Staat. Korruption sei quasi unmöglich, da alle Vorgänge im Internet einsehbar sind. Bereits Mitte der 1990er Jahre hat die Regierung Estlands mit dem sogenannten ‘Tigersprung’ den Grundstein für die Digitalisierung gelegt: jeder – absolut jeder – der 1,3 Millionen Einwohner Estlands wurde digital erfasst, und bekam einen digitalen Code. Alle staatlichen regionalen und überregionalen Dokumente und Ausschreibungen sind digital einsehbar. Jeder, der die Daten einsieht, wird registriert. Damit ist nachvollziehbar, wer wann welche Datei angesehen hat. Christoph meint, Korruption sei damit ausgerottet.

Danke Estland

Wir verlassen Estland, und bedanken uns ganz herzlich für die Gastfreundschaft in diesem tollen Land. Estland, du hast unser Herz erobert. Freundliche Menschen. Tolle Landschaften. Geschichte. Kultur. Eine Seenlandschaft in Süd-Estland, die dem polnischen Masuren gleichkommt, nur nicht so überlaufen und erschlossen ist. Mein morgendliches Bad im einsamen See werde ich sicherlich nicht vergessen. Estland hat noch diesen Pionier Charakter, man kann viel selbst bewegen. Als Wohnmobilist kann man so frei stehen, wie wahrscheinlich nirgendwo sonst in Europa. Hunde dürfen dank des vielen Platzes herumlaufen. Auf Stellplätzen – wenn man mal Strom und Wasser braucht – gibt es genug Platz, so das meistens nichts Parzellen ähnlich abgetrennt ist. Danke Estland!

Bye bye Estland – Hallo Lettland.

Fast ein bisschen wehmütig passieren wir die Grenze nach Lettland auf einem Schotter-Waldweg. Wir sind auf dem Weg nach Gulbene, durchs Landesinnere von Lettland. Gähn. Nach dem Schotter-Weg wird es asphaltiert, und kerzengerade. Ganz ehrlich: die Fahrt ist langweilig. Nichts als Bäume rechts und links, im besten Fall mal ein kleiner Ort. Keine Wohnmobile weit und breit. Mehr als einmal fragen wir uns, was die Einwohner in dieser Einöde wohl beruflich machen.

Dann aber. Plötzlich. Kurz vor Gulbene. Ein Schild! Das auf ein Schloss hinweist. ‚Eine europäische Perle‘, 3 Kilometer entfernt. Wir biegen ein. Und was sich hier in der Prärie Lettlands auftut, ist beinahe unglaublich: im nirgendwo, in der Einöde, erhebt sich ein blütenweißes perfekt restauriertes Märchenschloss. Mit Zinnen. Türmen. Auf dem Weg zum Schloss-Eingang klingt zarte klassische Musik aus Lautsprechern, und erfreut die Ohren. Wir sind baff.

Schloß Stämerien

Nichts wie hinein. Und hier offenbart sich die nächste Überraschung: drinnen ist nichts renoviert! Drinnen sieht es rustikal aus, wie früher. Wie spannend ist das denn bitte sehr?! Das müssen wir natürlich ergründen, und wir suchen die Kasse. Die ambitionierte Mitarbeiterin teilt uns leider erstmal mit, das Hund Rocky draußen bleiben muss. Schade, sagen wir. Sie merkt uns an, wie bedauerlich es ist und gestattet uns, zumindest das Erdgeschoss mit Hund zu besichtigen. Vorher aber erzählt sie: „auch dieses Schloss ist durch viele Hände gegangen, und steht nun wieder unter der Verwaltung der Gemeinde. Diese hat die Außenmauern inklusive Dach erst 2019 völlig renovieren lassen, da der Verfall seinen Lauf nahm, und immer mehr Wasser in das kaputte Gemäuer eindrang. Geld für die Innen-Sanierung muss noch bewilligt werden. Somit behelfen wir uns erstmal selbst‘.

Und erneut sind wir baff, als wir das Erdgeschoss ansehen. Eine Kunstausstellung a la Pop Art, bunte frivole Gemälde hängen auf den halb verfallenen Wänden, aus denen mancherorts die ursprüngliche Bauweise mit Stroh und Lehm hervor schaut. Im Esszimmer ein mit Porzellan gedeckter Tisch, edelstes Kristall und Kerzenleuchter. Auf dem Klavier Gesangsbücher mit ‚den schönsten Weihnachtsliedern‘ in kyrillischer (?) Schrift.

Ein Juwel mitten in Lettland

Diese Mischung aus alt und neu. Verfallen und modernisiert. Reichhaltig und karg. Vergangenheit und Gegenwart – es fasziniert mich. Selten habe ich eine so gelungene Mischung gesehen, in der man die Vergangenheit am Leben lässt, und die Moderne einhaucht. Natürlich ist das hier erstmal mangels Geld geschehen, die ambitionierte Mitarbeiterin sagt jedoch, das die Vergangenheit auch nach Renovierung beibehalten werden soll. Welch verstecktes Juwel, das auf keiner unserer Karten verzeichnet war. Wir sind geflasht, als wir weiter fahren.

Disco Golf in Gulbene

In Gulbene, genauer gesagt in Rubeni, verbringen wir zwei Nächte auf einem entzückenden Landgut, deren erste Wohnmobil Touristen wir sind. 15 Euro pro Nacht, mit Strom und Sanitär Trockentoilette und kalter Außendusche – bei 27 Grad sehr angenehm.

Wir spielen eine Runde Disco Golf, ein im Baltikum populäres Spiel mit Frisbee Scheiben. Der Platz ist angelegt wie ein Golfplatz, nur kleiner. Man wirft die Frisbee Scheiben in Körbe, oder versucht es zumindest. Nettes Spiel, hat Spaß gemacht. René schlägt mich knapp 54 zu 57.

Bye bye Lettland – Hallo Litauen

Es geht weiter südlich, die angepeilten Stops in Lettland erweisen sich als Flop. Zu teuer (30 Euro die Nacht im nirgendwo, fernab der Zivilisation), und irgendwie tote Orte an einem Fluss, in den man nicht hinein kann. So werden aus geplanten 2 Stunden Fahrzeit über 4,5 Stunden, und wir überqueren die Grenze nach Litauen früher als geplant. Der Sommer ist endlich ausgebrochen, am Wochenende ist es überall an den Seen voll. In Zarasai auf dem gleichnamigen Campingplatz bleiben wir für zwei Nächte für 15 Euro pro Nacht mit Strom und Sanitär.

Und dann kommt Tarzan!

Tarzan ist etwas, das ich schon jahrelang auf meiner Liste hatte: ein Hochseil-Garten mit Ziplines. Ich habe Höhenangst und versuche mich immer in Aktivitäten diese zu bekämpfen. So auch hier. Wie immer bin ich voll motiviert, jedoch nicht lange. Nach dem Sicherheits-Briefung geht es angeschnallt und eingehakt los. Die ‚grüne‘ und damit leichte Route. Leicht? Naja kommt drauf an. Erneut stelle ich fest, das meine Balance mehr als mangelhaft ist, und einfaches balancieren über kurze Baumstämme in einen totalen K(r)ampf ausartet. Nachdem ich mich zitternd und bibbernd durch die ersten Hindernisse geeiert habe, tue ich was? Ratet mal. Ich höre auf! Basta. Ich muss nicht alles können und durchstehen. Mir ging schlichtweg der A**** auf Grundeis.

Runter vom Baum, Geschirr abgeschnallt. Die super freundliche Mitarbeiterin hat mich getröstet, mir gesagt ‚viele hören auf, es ist einfach schwierig‘, und hat mir unaufgefordert die 10 Euro erstattet. Wie nett ist das denn?! Also verbringen wir den Nachmittag entspannt und planen unser weitere Tour.

Wie geht’s weiter?

Wir suchen derzeit eine Route von Vilnius und dem Wasser-Schloss Trakai durch Ost-Polen nach Süden. Warschau klammern wir aus, das hatten wir bereits 2014 besucht. Ost-Polen ist ähnlich wie das Landesinnere des Baltikums: dünn besiedelt, Autobahnen sind auch nicht gebaut, außer um Warschau herum. Entsprechend planen wir kürzere Tages-Etappen von maximal 300 Kilometern nach Krakow in Polen.

Dann durch das Tatra Gebirge nach Bratislava in der Slowakei, und nach Ljubljana in Slowenien. Über den Neusiedlersee im Burgenland, und den Faaker See zum Gardasee, und nach Genua. Von Genua nehmen wir die Fähre nach Barcelona, um die Fahrerei abzukürzen. Anfang September sind wir zurück in Andalusien. Aber nein nein nein, daran will ich noch nicht denken.

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Sabine von Reth
Rene von Reth

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